Wie auch in anderen Ländern West- und Mitteleuropas stehen sich im deutschen Sprachraum zwei grundsätzlich verschiedene Varietäten gegenüber: Gesprochene und geschriebene Sprache. Daran hat sich seit 1500 Jahren nichts geändert. Die Ausgangssituation im Frühmittelalter war überall gleich: geschrieben wurde Latein, gesprochen wurden die Volkssprachen.
Volkssprachen waren im romanischen Sprachraum die sich immer weiter auseinanderentwickelnden Formen des Vulgärlateins. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland sprach die Bevölkerung die nah verwandten Dialekte der westgermanischen Sprachgruppe: Althochdeutsch, Altniederdeutsch und Friesisch. Bis zur Zeit Karls des Großen wurde keiner dieser Dialekte geschrieben. Die Intellektuellen jener Zeit, die Mönche und Priester der christlichen Kirche, kommunizierten schriftlich und zu manchen Anlässen auch mündlich auf Latein.
Hochmittelalter: Mittelhochdeutsch und eine engmaschige Dialektlandschaft
Im Hochmittelalter entstand, beschränkt auf eine dünne Schicht kunstsinniger Adeliger, die erste Form einer gesamtdeutschen Sprache. Sie wird heute „Mittelhochdeutsch“ genannt. Es ist die Sprache des Nibelungenlieds und der Minnelyrik, die von reisenden Liedermachern von Burg zu Burg gebracht wurde. Die Menschen in den Dörfern zu Füßen dieser Burgen aber sprachen weiterhin ihre Dialekte. Und diese Dialekte entwickelten sich immer weiter auseinander. Ob Leibeigener oder Freibauer: Der Mobilitätsradius der einfachen Leute reichte nicht weiter als bis zur nächsten Kirche, zum nächsten Marktplatz. Was sich an Spracheigentümlichkeiten, Aussprachevarianten oder Modewörtern in einer solchen Kleinregion entwickelte, blieb auf diese beschränkt und strahlte nicht auf die Nachbarschaft aus. In dieser Zeit entstand die engmaschige Dialektlandschaft, die bis ins letzte Jahrhundert Bestand hatte.
Renaissance: Schriftverkehr in der Volkssprache
Im Spätmittelalter kam mit der Auflösung der Ritterkultur auch das Ende des Mittelhochdeutschen als Literatursprache. Nun setzten mit der Renaissance neue Entwicklungen ein, die schließlich zur Entstehung der modernen Standardsprache führte. In den Städten stiegen bürgerliche Handwerker zu Fabrikanten, Krämer zu weiträumig agierenden Kaufleuten auf. In den Schreibstuben der Fürsten wurde deren immer umfangreicher werdende Korrespondenz nicht mehr von Mönchen, sondern von bürgerlichen Beamten erledigt. Latein konnten weder die Kaufleute noch die Verwaltungsschreiber. Der Schriftverkehr wurde in der Volkssprache abgewickelt. Nun entstanden zwei geschriebene Varianten des Deutschen, indem Schreibweise und Wortschatz der unterschiedlichen Regionen sich allmählich anglichen.
In Südostdeutschland tonangebend waren die kurfürstlich sächsische Kanzlei in Meißen, die kaiserliche Kanzlei in Wien und die Korrespondenz der Kaufleute aus den großen Reichsstädten wie Nürnberg oder Augsburg. Es entstand so die heute „Frühneuhochdeutsch“ genannte Schriftsprache, die Eigenschaften des Fränkischen, Bairischen und Sächsischen in sich aufnahm. Im Norden, an den Küsten von Nordsee und Ostsee entstand eine eigenständige Schriftsprache. Dies war das Niederdeutsche, die Korrespondenzsprache der Hanse. Sie entsprach in ihrer mündlichen Basis den Dialekten von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und den Niederlanden. In der Form von geschriebenem Hochdeutsch und Niederdeutsch standen sich zwei Schreibdialekte gegenüber, die sich in den folgenden Jahrhunderten zu normierten Standardsprachen entwickelten: Deutsch und Niederländisch.
Neuhochdeutsch mit Grammatiken und Wörterbüchern
Im 17. und 18. Jahrhundert erhielt das Neuhochdeutsche eine erste Form überregionaler Normierung. Grammatiken und Wörterbücher wurden verfasst und sorgten für die zunehmende Vereinheitlichung der „Schreibart“, die nun der „Mundart“ .gegenüberstand. Erst die Aussprachewörterbücher und vor allem die Medien des 20. Jahrhunderts bewirkten auch eine Vereinheitlichung der Aussprache des Standarddeutschen
Diglossie: Parallelexistenz von Standarddeutsch und Dialekt
Bis heute hat aber diese neue Standardsprache die althergebrachten Dialekte nicht völlig verdrängt. Beide Varietäten existieren nebeneinander mit funktionaler Differenzierung: Das Standarddeutsche wird in Situationen verwendet, die eine Kommunikation über die Grenzen der Dialekte hinaus erfordern, Dialekt ist die Sprache der menschlichen Nähe, des Kontakts in Familie, Freundeskreis, Dorfgemeinschaften, Vereinsleben und regionaler Kultur. Bei solch einer Rollenverteilung zweier Sprachvarietäten spricht man auch von „Diglossie“.
Voraussetzung für das Funktionieren der Diglossie ist, dass die Sprecher beide Varietäten beherrschen und je nach Situation zwischen den Registern wählen können. Dabei gibt es innerhalb des deutschen Sprachraums einige Unterschiede. In Norddeutschland ist der niederdeutsche Dialekt nahezu ausgestorben. Seine Funktion in der Diglossie nimmt die „Umgangssprache“ ein, eine lautlich niederdeutsch gefärbte gesprochene Form der Standardsprache.
In Süddeutschland wechseln noch viele Sprecher je nach Situation zwischen mehreren Übergangsstadien zwischen Standardsprache und Dialekt. Hier ein Beispiel:
Der standardsprachliche Satz: „Der Junge wird dieses Jahr eingeschult“ lautet in den verschieden Sprachebenen der Stadt Nürnberg:
der Bub kommt heuer in die Schule (süddeutsche gesprochene Standardsprache)
dä Buu kummt heuer in die Schull (fränkische Umgangssprache)
dä Buu kummt heier in d’Schull (städtische Mundart Nürnbergs)
dä Bou kummt heier in d’Scholl (Mundart der näheren ländlichen Umgebung Nürnbergs)
Zwischen den als Beispiele angeführten Sprachebenen gibt es noch zahlreiche Übergänge, zwischen denen ein und derselbe Sprecher je nach Situation wechseln kann.
Einige häufig verwendete Fachbegriffe
Dialekt | Vorwiegend oder ausschließlich gesprochene Varietät einer Sprache mit Merkmalen, die von der normierten Form der betreffenden Sprache abweichen. |
Mundart | Der Begriff „Mundart“ wird meist synonym mit „Dialekt“ verwendet. |
Normierung | Regelung von Aussprache, Grammatik, Wortschatz und Rechtschreibung einer Sprache. |
Varietät | Form einer Sprache, die in bestimmten Regionen, bei bestimmten Bevölkerungsschichten, Berufs- oder Altersgruppen gesprochen und/oder geschrieben wird. |
Umgangssprache | Ausschließlich gesprochene Form einer Sprache, die von der Norm meist durch einfachere grammatikalische Regeln, einfacheren Satzbau, aber auch durch Anklänge an den Dialekt der jeweiligen Region abweicht. |